top of page
  • Facebook
  • Twitter
  • Instagram

Eine Reiswaffel gegen den Hungertod

Autorenbild: Jennifer WillertJennifer Willert

Aktualisiert: 20. Feb.


Schon seit vielen Jahren bin ich unsterblich verliebt. Eine kleine Insel mitten in der Nordsee hat es mir dabei angetan. Mindestens einmal pro Jahr muss ich dort Urlaub machen, sonst wird die Sehnsucht einfach zu groß.

Im März diesen Jahres fahre ich wieder für eine Woche nach Amrum. Die Vorfreude auf die Insel ist groß, wenn da nur nicht die lange Fahrt wäre. ELF bis ZWÖLF Stunden muss man da mit Auto und Fähre schon mal einrechnen, bei Stau und verstopfter Autobahn natürlich länger. Auch die Deutsche Bahn ist keine wirkliche Alternative. Die Fahrtzeit ist ähnlich lang und Zugausfälle, Verspätungen, verpasste Anschlusszüge tun ihr Übriges.

Mit Schrecken erinnere ich mich an die grauenvolle Rückfahrt mit dem Auto letzten Sommer, die wir fast nicht überlebt hätten.


„Fertig mit Packen?“, frage ich meine Tochter. Sie nickt.

„Hast du auch nichts vergessen?“, frage ich weiter.

Genervtes Augenrollen ist die Antwort.

Gleichzeitig checke auch ich noch einmal meine Sachen. Alles da... Koffer, Jacke und der Rucksack, voll gefüllt mit Proviant für die Heimfahrt. Ein fatale Fehleinschätzung... aber dazu später.

Ein letztes Mal lasse ich den Blick durch die Ferienwohnung schweifen, dann ziehe ich die Haustür gewissenhaft ins Schloss. Schlüssel, wie besprochen in den Briefkasten und los geht es mit dem Bus in Richtung Fähranleger.

Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber kaum haben wir die Fähre betreten, überkommt uns ein Bärenhunger. Während der zweistündigen Fahrt verschwindet der größte Teil des Proviants in unseren Mägen und es ist gerade mal 7 Uhr vorbei. Danach sind wir erst einmal gesättigt und verlassen den Inselparkplatz in guter Laune. Unser Ziel ist es, ohne große Verzögerungen, Pausen und Zwischenfälle nach Hause zu kommen. Unser Vorsatz hält bis zum Elbtunnel an, dann stehen wir das erste Mal im Stau. Diese kleine Verzögerung nehme ich noch gelassen hin und eine halbe Stunde später ist der Spuk dann auch schon wieder vorbei. Kaum sind wir ein paar Kilometer gefahren, als sich schon der nächste kleine Stau ankündigt. Die A7 ist wieder einmal verstopft, wie das Siphon eines alten Spülbeckens

„Das gibt es doch gar nicht!“, schimpfe ich, als ich eine Viertelstunde später schon wieder abbremsen muss. Im Schneckentempo geht es weiter.

Gegen Mittag setzt bei uns beiden ein leichtes Hungergefühl ein und meine Tochter kramt in leichter Verzweiflung im Rucksack herum.

„Ist das alles?“, fragt sie mich kurze Zeit später und hält mir missmutig eine angebrochene Packung Kräcker unter die Nase.

„Scheint so!“, antworte ich ebenfalls leicht genervt, denn ich muss schon wieder abbremsen.

„Die schmecken ja widerlich!“, höre ich meiner Tochter, begleitet von einem Würgegeräusch, sagen.

„Du musst sie ja nicht essen! Niemand zwingt dich dazu!“, entgegne ich ihr lauter als beabsichtigt. Vielleicht der klägliche Versuch mein eigenes Magenknurren zu übertönen.

„Hast du gar NIX zu trinken hier im Auto?“, fragt sie mit nörgelndem Unterton in ihrer Stimme.

„Was ist denn mit der Wasserflasche, die ich vorhin auf der Fähre gekauft habe?“, antworte ich ihr um Fassung bemüht.

„Die ist schon seit Stunden leer!“, stellt meine Tochter genervt fest.

„Okay! Wir fahren an der nächsten Raststätte raus!“, gebe ich nach.

„Wann kommt denn die nächste Raststätte?“

„Nur noch 5xStau... dann sind wir da!“, zicke ich zurück.

Danach ist erst einmal Funkstille.

Letztendlich ist es nur ein Stau, dafür kostet er uns ganze 40 Minuten Lebenszeit. Eine unangenehm drückend, volle Blase, ein nicht mehr zu ignorierendes Hungergefühl und eine Laune, die sich schon zwei Etagen unter den Kellerräumen befindet gibt es gratis dazu.

Auf dem Parkplatz angekommen, stürmen wir gleichzeitig aus dem Auto in Richtung Toilette. Meine Tochter versucht sich an einem Lächeln. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie nur deswegen freundlich ist, weil sie einen Euro von mir braucht.

Nach dem Toilettengang, die erste Erleichterung ist deutlich spürbar, betreten wir die Raststätte. Meine, gerade wieder reanimierte, Gute Laune beginnt abermals zu schwächeln, als mein Blick durch den Kiosk und den angrenzenden „Restaurantbereich“ schweift. Ein paar mitleiderregende Würstchen schwimmen neben einem, mit knatschig aussehenden Brötchen bestückten, Plastikkörbchen. Giftgrüne Äpfel, in denen sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein einziges Vitamin mehr befindet, baumeln an einem darüber befestigten Drahtkorb trostlos von der Decke.

Fast muss ich loslachen, als ich das traurige Arrangement vor mir begutachte. Eine Art Stillleben des Grauens, denke ich bei mir.

Die angebotenen und völlig überteuerten Hotdogs, Hamburger und belegte Brötchen mit undefinierbarem Belag machen es nicht besser.

„Hier essen wir nichts!“, bestimme ich und verlasse mit hocherhobenem Haupt das Gebäude. „Lieber verhungere ich!“

Meine Tochter schleicht mit gesenktem Kopf hinter mir her.

Aber auch die nächsten zwei angesteuerten Raststätten bringen keine wirkliche Verbesserung der Lage mit sich.

Mittlerweile quälen uns Hunger, Durst und Rückenschmerzen vom langen Sitzen in gleichmäßiger Intensität. Die anfänglichen Beschwingtheit des Vormittags ist zwischenzeitlich zu einem Häufchen Hoffnungslosigkeit zusammengeschrumpft. Zwei Staus später, kurz vor Fulda müssen wir uns eingestehen, dass es so nicht mehr weitergeht.

Wir nehmen die nächste Ausfahrt und fahren auf der Suche nach einem Restaurant, Döner-Laden, oder Ähnliches ein Stück in die Stadt hinein.

Es ist mittlerweile 17 Uhr vorbei. Auf eine Stunde früher oder später kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Wir verfahren uns... streiten miteinander... verfahren uns noch einmal... können uns nicht mehr leiden.

Plötzlich sehe ich auf der linken Seite ein hellerleuchtetes Gebäude in Form einer Biskuitrolle. „Tegut“, lese ich auf dem großen Schild, welches in gut lesbarer Schrift auf dem Dach angebracht ist.

Innerlich jubelnd beschreibe ich eine 90 Grad Kurve nach links, um kurze Zeit später auf dem großen Parkplatz vor dem Supermarkt zum Stehen zu kommen.

„Ein Tegut!, stelle ich überglücklich fest und umarme meine Tochter überschwänglich. Freudetaumelnd betreten wir in gespannter Erwartung den Laden.

Ein 24-Stunden offener Selbstbedienungsladen, genannt TEO.

Was haben wir für ein Glück, denn es ist Sonntag.

Wir stürmen durch die Gänge, jeder nimmt was er tragen kann. An der Kasse treffen wir uns wieder. Ich ziehe eine Packung vegetarisches Sushi, Bulgursalat, Bio-Nudelsalat, Joghurt, Bananen und einen Vanillepudding über den Scanner der Kasse.

Nachdem Bezahlen, fast schon am Ausgang fällt mir der begangene Fehler auf.

„Wir haben kein Besteck!“, rufe ich und bleibe wie angewurzelt stehen.

Widerwillig bleibt auch meine Tochter stehen. Es ist ihr anzusehen, dass sie sich mit solchen Nebensächlichkeiten, wie fehlendem Besteck nicht herumärgern will.

„Dann nehmen wir den Salat und den Joghurt mit nach Hause. Ich esse das Sushi und du die Bananen!“, bestimmt sie.

Damit bin ich aber überhaupt nicht einverstanden. Ich hatte mich so auf den Pudding und den Salat gefreut, dass ich einfach stehenbleibe. Die Lebensmittel fest an meinen Körper gedrückt, stehe ich mit trotziger Miene mitten im Laden und fange fast an zu heulen.

Ich kann nicht mehr! Der Kampf ist verloren!

Meine Tochter schaut mich einen Moment an dann seufzt sie. „Also gut! Vielleicht gibt es hier ja auch Besteck zu kaufen!“

Wir durchkämmen den Laden zweimal sehr gründlich, finden aber NICHTS!

In meiner abgrundtiefen Verzweiflung fällt mein Blick auf eine Packung Reiswaffeln und ich habe eine grandiose Idee.

Nachdem wir wieder im Auto Platz genommen haben, bauen wir unsere mitgebrachten, essbaren Kostbarkeiten vor uns auf. Auf jeder freien Stelle im Auto steht ein anderes Schüsselchen. Danach reiße ich die Verpackung der Reiswaffeln auf. Nehme mir eine heraus und beiße sie zu einem Löffel zurecht. Meine Tochter schaut mir mit erstauntem Gesichtsausdruck und offenem Mund dabei zu.

Als mein Löffel fertig ist frage ich sie: „Was ist jetzt mit dir? Soll ich dir auch einen Löffel zurecht beißen oder schaffst du das auch ohne mich?“

Danach spricht keiner mehr ein Wort. Wir sitzen nebeneinander im Auto und vertilgen unser Essen in Rekordgeschwindigkeit. Den Reiswaffel-Löffel noch fest in der Hand, lehne ich mich einige Zeit später zufrieden in meinen Sitz zurück.

„Weißt du Mama! Das mit dem Essen ist schon wichtig! Da geht es einem gleich viel besser... auch so mental!“, meint meine Tochter.

Ich schaue sie an und dann muss ich loslachen. Erst ist es nur ein Grinsen, dann ein Kichern und dann lachen wir zusammen so laut, dass es wahrscheinlich über den ganzen Parkplatz schallt.

Falls es noch irgendjemanden interessiert, es ist fast 21 Uhr, als wir endlich zu Hause ankommen.


 
 
 

Kommentarer


bottom of page